Kommt mit zur 328 15th Avenue. E. in Seattle. Ich muss euch dort etwas zeigen. „Your neighborhood coffeeshop is getting a makeover“ steht dort auf einem großen Holzzaun, der den Blick auf den Starbucks-Store versperrt. Die Google-Streetview-Ansicht ist längst nicht mehr aktuell. In den letzten Wochen wurde dieser Store kräftig umgebaut. Wenn der Starbucks in dieser Woche aufmacht, dann sieht er komplett anders aus. Aber nicht nur das: Der Starbucks heißt nicht mehr Starbucks, sondern „15th Avenue Coffee and Tea“.
Ein Feldversuch
Starbucks hat sich entschieden drei Filialen in der Heimatstadt Seattle umzubenennen. „15th Avenue Coffee and Tea“ macht den Anfang und öffnet seine Türen in der kommenden Woche das erste Mal. Die Namen der anderen beiden Coffeehouses habe ich noch nicht erfahren, sicher ist: Starbucks will die Filialennamen so auswählen, dass die in die Nachbarschaft passen.
Die Community in der direkten Nachbarschaft ist Starbucks ja schon immer wichtig gewesen. Im Mission Statement steht: „Wir wirken positiv auf unser Umfeld und die Umwelt ein.“ Unter diesem Gesichtspunkt ist es nur konsequent auch das Schild über der Eingangstür auszutauschen. Das gewohnte grüne Logo mit der Meerjungfrau verschwindet auch von den Schürzen der Angestellten, von den Pappbechern und den Kaffeebohnenverpackungen.
Warum Starbucks dieses Experiment startet, erklärt ein Artikel in The Seattle Times vom vergangenen Donnerstag aber nur oberflächlich. Von der Krise ist die Rede. Wenn wir uns Prozesse in den neuen Medien anschauen, dann sehen wir: Dieser Schritt von Starbucks ist nicht nur mutig, sondern vor allem konsequent.
Der Massenmarkt entdeckt die Nische
Denken wir kurz an die Massenmärkte – aber nicht zu lange, da dies zu deprimierend ist. Den Kaufhäusern sterben die Kunden weg. Musikkünstler im Top-Ten der Charts verkaufen viel weniger Platten, als noch vor einigen Jahren. Immer weniger Fernsehsendungen schaffen es, ein Millionenpublikum an sich zu binden. Werber müssen in mehreren Printtiteln ihre Anzeigen schalten, um die breite Zielgruppe zu treffen, die sie noch vor Jahren mit einer Schaltung erreichen konnten. Eigentlich müßte die Hausaufgabe für alle Unternehmer heißen: Macht euch fitt für die Nische! (Und das ganz im Sinne von Chris Anderson oder Jeff Jarvis)
Wenn Starbucks‘ Erkenntnisgewinn aus diesem Feldversuch lautet „Ein individueller Name und individuelle Produkte in unseren Filialen werden von den Kunden viel besser angenommen“, dann ist es nur konsequent dieses Konzept auf alle 16.120 Filialen anzuwenden.
Das würde bedeuten: Das Prinzip McDonald’s ist gescheitert! Ein Burger für die ganze Welt funktioniert halt nicht so gut, wie eine leckere Mahlzeit in der ganzen Welt. Die Identität der Geschäfte wird dann nicht mehr durch ein Produkt, sondern durch die Qualität der Produkte bestimmt.
Ich kann auch nicht absehen, was dieser Weg für die Marke „Starbucks“ bedeutet. Sie verblasst vermutlich in den Köpfen der Kunden. BWL’er schlagen jetzt die Hände über den Kopf zusammen. Marketingexperten halten dies für einen Aprilscherz. Aber brauchen wir wirklich eine große Marke? Bei diesem Feldversuch wird nicht im Detail ein Konzept geändert – hier wird das Große überdacht und das Ganze über den Haufen geworfen. Im Endeffekt geht es einer Firma um das, was bei der Bilanz unter dem Strich steht. Wenn die Starbucksverantwortlichen das Ergebnis verbessern, indem sie das mit der Hilfe von 16.120 unterschiedlichen Marken schaffen und ganz ohne den Namen Starbucks, dann komme ich zu dem Ergebnis: Wir brauchen keine starken Über-Marken mehr.
Tabubruch
Als ich die Geschichte in The Seattle Times gelesen habe, mußte ich erst einmal schlucken. Als treuer Starbucks-Kunde frage ich mich, ob ich es vermissen werde, auf das gewohnte Bild der Coffeehouses zu treffen. Ich fühlte mich immer zu Hause. Egal ob bei dem Starbucks vor meiner Haustüre, neben dem Brandenburger Tor, in London, Manhattan oder Süd-Florida. Vielleicht ist dies aber ein Gedanke, von dem wir uns verabschieden müssen.
Was mich aber noch stärker stört: „15th Avenue Coffee and Tea“ will sich stärker an dem klassischen US-Coffeeshop orientieren und auch Bier und Wein ausschenken. Entsprechende Lizenzen wurden schon eingeholt. Ich habe Starbucks immer dafür bewundert, dass die ein Rauchverbot führen, nur um die Qualität des Kaffees zu fördern. Der Verkauf von Bier und Wein stößt mir aber sauer auf. Aber vielleicht auch nur, weil ich in einer Nachbarschaft wohne, in der Cafés anders aussehen. Vielleicht besuche ich in Zukunft die Coffeehouses der Starbucks-Filiale öfters in Wien, um draußen nur in Kännchen trinken zu können. Ob bei mir im Hafen dann auch Fisch verkauft wird?
Okay, in diesem Punkt bin ich ein Kunde, der nicht bereit für Veränderung ist. Vielleicht sollte ich das aber sein. Im Mission Statement steht im ersten Satz: „Wir werden Starbucks als erstklassigen Händler für den besten Kaffee der Welt etablieren und unsere Prinzipien während unserers Wachstums kompromisslos aufrecht erhalten.“ Zu den Prinzipien gehört eben nicht, dass kein Bier und Wein verkauft werden kann (so als Beispiel).
Statt dessen unterstreichen zwei Prinzipien den Feldversuch: „Wir sehen Vielfalt als wesentlichen Bestandteil der Art und Weise, wie wir unser Geschäft betreiben“ und „wir sind uns bewusst, dass Profitabilität wesentlich für unseren zukünftigen Erfolg ist.“
Wenn Starbucks seine Profitabilität schwinden sieht, ist es Zeit zu handeln.
Blick in die Zukunft
Bei einem meiner nächsten Starbucks-Besuche werde ich einen Zettel mitbringen, auf dem ich ein paar Vorschläge zur Namensnennung der Filiale mache. Aber es ist unwahrscheinlich, dass der überhaupt benötigt wird. Immerhin gibt es jetzt erst einmal nur drei Filialen, die mit diesem Konzept getestet werden. Die Auswertung des Feldversuchs wird bestimmt viel Zeit in Anspruch nehmen und dann steht ja noch nicht einmal fest, ob die Idee funktioniert.
Auf jeden Fall finde ich es bemerkenswert, dass eine Firma sich so grundlegend überdenkt und in Frage stellt und so auf neue Rahmenbedingungen reagiert. Vielleicht hätten die Entscheider der Musikindustrie mehr Kaffee als Bier trinken sollen.
Nächste Woche machen die Starbucksstammbesucher und die Laufkundschaft große Augen, wenn sie in Seattle hinter den Holzzaun der 15th Avenue blicken. Kein poliertes Starbuckslogo, dafür eine Zapfanlage für Espresso und Lager.
Und ganz vielleicht machen wir demnächst irgendwo in unserer Nachbarschaft auch große Augen.
Bis dahin heißt es: Abwarten und Tee 😉 trinken
Carla Columna meint
Ich gehe nur zu Starbucks, weil ich das Logo auf den Tassen und Bechern so stylisch finde. Ich sage mir immer: cool guck mal bei Grey’s Anatomy/ NCIS/ … trinken die auch Starbucks Coffee. Das ist zwar verrückt, aber Starbucks ist doch nur so erfolgreich, weil es einen Kultfaktor hat. Oder etwa nicht?
Konstantin L. Maier meint
Interessanter Artikel.
Ich bin mir allerdings sehr sicher, dass Starbucks nicht grundlegend von seinem System abweichen wird. Das „Prinzip McDonalds“ ist nicht gescheitert. Die Skaleneffekte (Synergien) die durch ein solches System geschaffen werden sind sehr viel wert und die Grundlage für den Erfolg von Starbucks, McDonalds und co.
Trotzdem ist diversity eine gute Sache und wird dem Image von Starbucks gut tun.
daniel meint
@Carla: Würde ich auch so sehen – aber vielleicht ist so ein Kultfaktor ein Auslaufmodell. Ich kann es mir zwar irgendwie nicht vorstellen … aber wo doch die Nische der neue Massenmarkt ist, vielleicht macht das Sinn.
@Konstantin: Dadurch dass Starbucks immer noch Besitzer der Filialen ist, gibt es ja weiterhin massenweise Synergieeffekte. Das wäre aber ein ständiger Kompromiss zwischen Diversity und Masse. Vielleicht liegt der Erfolg einer weltweiten Handelsfirma darin, diesen schmalen Grad perfekt zu beherrschen.
Feli meint
Wow, gelungen. Wirklich krass, dass sich ein solches Unternehmen, die ja gerade darauf spekulieren, dass alle Welt sie in aller Welt sehen möchte, ihr Grundprinzip ändert. Mal gespannt, wie es ankommt. Könnte mir aber vorstellen, dass es klappt, weil viele Menschen immer mehr Wert auf Individualität legen, ihr kleines Cafe um die Ecke ist nicht das gleiche wie ein Coffee-Store, der überall auf der Welt stehen könnte.
Scott Hanson meint
Prinzip McDonald’s? Wohl kaum… Starbucks sehen weltweit ziemlich identisch aus. McDonald’s eher nicht, wird national angepasst.
daniel meint
@ Scott: Starbucks modifiziert das Gertänke- und Speisenangebot auch national. In den USA gibt es andere Speisen als in Deutschland. Selbst in den warmen und kühleren Regionen in den USA wird das Angebot entsprechend angepasst.
Tim meint
Wenn die Marketing-Leute ehrlich sind, beruht die „Global Brand Ideologie“ auf den Narzissmus der CEOs und Manager. Hat was von Macht, wenn die Farben der eigenen Firma überall auf der Welt präsent sind.
Scott Hanson meint
@Daniel Speisen sind für Starbucks bestenfalls ein Nebengeschäft (17% von Umsatz), also geringe regionale Unterschiede sind unwichtig. Aber ich meinte mehr das Aussehen und die Atmosphäre im Restaurant. Die sind ziemlich gleich ob am Central Park oder in der Mönckebergstrasse. Folgt Starbucks verschiedene Strategien in den USA und in Deutschland? Nicht was ich erkennen kann.
(Disclaimer: meine Frau ist eine Franchisernehmerin von McDonald’s Deutschland und betreibt 2 McCafs 🙂
Dirk meint
Scott, bis vor einiger Zeit gab es auch bei den Getränken und dem Merchandise Unterschiede zwischen USA und DE. Bechergrößen (S, T, G in DE T, G, V in USA), andere Sorten von Frappuccinos, Kaffeegetränke wie Vanilla Latte oder Kram mit Almond oder Maple, andere Bohnen im Merchandise-Regal,.. dazu der Unterschied zwischen manuellen Maschinen in USA und Vollautomaten in DE.
Aber Du hast schon recht, inzwischen hat man das meiste davon vereinheitlicht. Ich weiß gar nicht, ob es heute noch Unterschied gibt. Und ich weiß auch nicht, ob das damals Strategie war oder eher gewachsene Strukturen 😉
daniel meint
@Scott – vielleicht siehst du das so, weil du das McD-System sehr im Detail kennst. Für mich als Kunde sehen die Restaurants in Paris, New York oder Bocholt gleich aus. Denn: Wenn ich das Logo sehe, weiß ich, was mich im im Groben erwartet.
Dirk meint
Ich wollte eigentlich noch geschrieben haben, wie toll ich das finde mit dem Starbucks-Experiment. Mache ich äh.. morgen!
Malte meint
ein weiteres, schön dokumentiertes beispiel für einen starbucks-ableger in new york gibt es hier. interessant finde ich daran die ci-freie unterzeile inspired by starbucks wohl nur die allernötigste markenbindung.
daniel meint
Dirk, wolltest du nicht eigentlich noch schreiben, dass du das Starbucks-Experiment toll findest?
Malte, ohha – danke für den Link!