Seit ein paar Stunden gibt es Aufregung im Twitterland. Twitter schafft das Limit von 140 Zeichen ab. 10.000 Zeichen könnten bald möglich sein. Zunächst hatte Recode.net berichtet und dann hatte Twitter-CEO Jack Dorsey eine essayistische Erklärung getwittert, die aus viel Text besteht, aber aus keinem Dementi.
Ich finde es gut. Fünf Gründe, warum XXL-Twitter eine wirklich gute Idee ist.
- Die Original-Tweets bleiben. Das ist ja der Witz: Der Otto-Normal-Tweet behält sein 140-Zeichen-Limit. Die Kürze ist das Schönheitsideal vieler Twitternutzer, daran wird sich künftig nichts ändern. Nur: Genauso wie es mittlerweile Videos, Fotos und andere eingebettete Darstellungsformen gibt, kommt jetzt Text hinzu. Streng genommen ist das sogar schon überfällig.
- Bei Facebook funktioniert das mit dem Text auch. Auch bei Facebook können wir epische Textbeiträge lesen. Nur begegnen sie euch bei Facebook? Selten. Viele Facebook-Texte passen auch in einen Tweet. Der Rest ist Anhang (Link, Bilder, etc.). Facebook selbst bietet Texte zum Ausklappen an. Wenn ich dort viel schreibe, müssen die Freunde oder Follower den Text erst ausklappen. Diese Darstellungsform kommt überaus gut an, wenn man sie dosiert einsetzt, wie ich selbst bei unseren großen Seiten mit mehr als 20.000 Freunden beobachte.
- Lasst uns doch erst einmal offen sein. Manchmal ist die digitale Avantgarde wie ein Journalist. Sie schreibt ständig über Wandel, hasst ihn aber, wenn es sie selbst trifft. Facebook führt einen Newsstream ein … was für eine Aufregung, heute der Weg schlechthin um die Leserschaft für die eigenen Inhalte zu finden. Twitter überarbeitet seine Re-Tweet-Funktion … Aufregung … auch heute nutze ich die neuen Re-Tweets sehr gerne.
- Wir nutzen Twitter schon mit mehr Zeichen. Seien wir doch mal ehrlich: Schon heute wird langer Text auf Twitter veröffentlicht, aber in Form von Bildern. Lesbarkeit? Geht so. Durchsuchbarkeit? Nicht vorhanden. Jetzt lasst uns doch Twitter nicht vorwerfen, dass die sich anschauen, wie wir Twitter nutzen und schauen, wie sie Funktionen sinnvoll anpassen, damit aus einem Hack, ein Feature wird.
- Weil es aus Business-Sicht Sinn macht. Der mobiloptimierte Zugang zu Inhalten ist gerade ein großes Thema. Facebook bietet Instant Articles an und Google startet sein AMP-Projekt. Beide Plattformen bieten Lösungen an, wie Texte für den mobilen Abruf auf Schnelligkeit getrimmt mobil ausgespielt werden können. Am Ende hat das etwas mit der Steigerung der Verweildauer im eigenen System zu tun (Ob man Apple News in diese Aufzählung mit aufnehmen müsste, sollten wir an anderer Stelle diskutieren). Twitter hat hier noch nichts zu bieten. Wenn es eine Darstellungsform „langer Text“ gibt, können sie darauf ein ähnliches Angebot aufbauen. Warum auch nicht. Okay, ich mag die XXL-Twitter-Idee, als Social-Media-Manager in einem Medienhaus sehe ich aber dann auch Probleme auf uns zu kommen: Ganze Artikel bei Twitter veröffentlichen? Da sind wieder kluge Überlegungen gefragt. Aber wir wollen vor der Arbeit nicht scheuen …
- Und zum Schluss ein Funfact: Das Ur-Twitter hatte kein 140-Zeichen-Limit. In der ursprünglichen Konzeption funktionierten die Nachrichten auch mit mehr Zeichen. Allerdings kam schnell die Steuerung per SMS (ja, wirklich!) hinzu. Und da eine SMS nur 160 Zeichen lang sein kann und noch Steuerbefehle ergänzt werden mussten, hat sich Twitter selbst die 140-Zeichen-Grenze auferlegt. Diese Entscheidung war im Nachhinein wohl die beste, die das damals junge Unternehmen getroffen hatte.
egghat (@egghat) meint
Niemand braucht einen Klon von Facebook (man bedenke, dass Twitter mit einer Abkehr der rein chronologischen Sortierung der Timeline experimentiert). Niemand braucht ein zweites Facebook, denn es gibt bereits eins. Ja, Twitter hat das asymmetrische Follower-Prinzip, aber ansonsten wäre es komplett gleich (im Zeitalter von „ich folge eh jedem zurück, der mir folgt“, minimiert sich der Unterschied eh).
Da Facebook VIEL mehr User hat und VIEL mehr API und Einbettmöglichkeiten und VIEL mehr IT im Backend (u.a. Intelligenz für Werbeausspielung) wird Twitter als kleineres Facebook II untergehen. So wie 1000 andere soziale Netze, die teilweise mehr können als Facebook, nie abgehoben haben, weil sie zu wenig Alleinstellungsmarkmal hatten, um Leute anzuziehen.
256 Zeichen reiner Text, von dem Replys/Mentions, Links und Anhänge nicht abgehen, würde ausreichen. Wäre les- und scrollbar, würde Diskussionen ermöglichen und nicht einen zweiten Walled Garden schaffen, in den Content-Produzenten ihren Inhalt kippen müssen (weil der User einen Link auf einen externen Text als viel zu aufwändig empfindet und immer den „internen“ Text bevorzugen wird. Viel Spaß dabei als Medienschaffender!)
Kristina Dahl meint
Ich bin gespannt, was kommt. Aus Business-Sicht ist die 140 Zeichen Begrenzung schon manchmal etwas nervig. Dann fehlen oft nur ein paar Zeichen, um einen vernünftigen Satz zu bilden. Stattdessen müssen dann Formulierungen gewählt werden, die kurz, knapp und damit auch oft unhöflich wirken. Und das möchte man bei Kunden natürlich gerne vermeiden.
DoSchu meint
Ich bleibe dabei: 140 Zeichen ist Twitters Key Differentiator und wo bleibt dann die Kunstform der Twitter-Poesie wie z.B. http://rea-poulharidou.de/lyrik.html#max ? Die Kürze „zwingt“ Kommunikatoren dazu, aus ihren gerne wortreichen Botschaften das zu kondensieren, was sie rüberbringen möchten. In meinen Workshops liebe ich das als Übung für die Teilnehmenden. Nunja, als Übung für den Text vor Ausklappen des Tweets (oder Facebook Posts) bleibt mir ja etwas davon erhalten.