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Nach 20 Jahren schreibe ich das erste Mal meine Erinnerungen an den 11. September 2001 auf. Es war auch für mich ein prägendes Erlebnis. Mit den Anschlägen in den USA wurden auch Ereignisse ausgelöst, die meinen Weg in die Medien betrafen. Aber das ist nicht die Geschichte, die ich heute erzählen möchte.
Vor 20 Jahren war ich am Heiligen Meer, was im Nachhinein nach einem ungewöhnlichen Ort im Kontext der Auseinandersetzung zwischen den USA und Al-Qaida klingt. Es war auch ein ungewöhnlicher Aufenthalt. Das Heilige Meer ist ein Naturschutzgebiet in der Nähe von Ibbenbüren im Tecklenburger Land, ganz im Norden von Nordrhein-Westfalen. Mit meinem Bio-Leistungskurs haben wir einen Ausflug in eine Naturschutzstation gemacht, um zu forschen. Es war für die Besucher*innen selbst im Vor-Smartphone-Zeitalter ein abgeschiedener Ort: Kein Fernseher, kein Radio, kein Internet-Computer — ich hatte eins der wenigen Handys dabei.
Es war ein Ort der Ruhe. In dem Alter schätzten meine Mitschüler*innen und ich das nicht wirklich. Im Nachhinein waren wir aber froh. Als die ersten Flugzeuge in die Gebäude des World Trade Centers krachten, befanden wir uns auf dem Großen Heiligen Meer, das ist der größte Binnensee in NRW. Auf kleinen Booten haben wir Wasserproben genommen, um Einzeller später im Labor zu untersuchen.
Zurück im Labor erreichten uns erste Anrufe und SMS. Unser Biolehrer, für sein Alter streng aber herzlich, kritisierte die Unruhe. Ich durchbrach die Unruhe und berichtete von den ungewöhnlichen Nachrichten, die uns erreichten. Ziemlich schnell merkten wir, dass dies eine Situation ist, in der wir uns noch nie befanden. Als junges Grundschulkind erinnere ich mich noch, wie in meiner Familie über Wochen die Wiedervereinigung Thema war. Ich erinnere mich auch noch genau, wie mein Vater später während des Golfkriegs jeden Morgen CNN einschaltete, um von den neusten Entwicklungen aus der Nacht zu erfahren. Die schwarz-grünen Nachtaufnahmen habe ich noch heute im Kopf. Aber dieses Ereignis am 11. September 2001 war anders: Es kam plötzlich und mit voller Wucht. Das erschütterte sogar die Ruhe im Heiligen Meer.
Ein Internet-Bekannter von einem eigenen Online-Radio (ja, das war damals eine Sache) hatte sein erstes Praktikum bei einem Radiosender. Er rief mich an, um mir per Telefon das Radioprogramm von Antenne Bayern durchzustellen. Die ganze Gruppe versammelte sich irgendwann um mein Handy, um die neusten Entwicklungen zu hören. Wie genau der Nachmittag weiterging, weiß ich nicht mehr. Unser Lehrer muss wohl mit der Schule telefoniert haben, wie wir jetzt verfahren sollten. Auf jeden Fall hatte er eine gute Idee: Am Abend machten wir einen Fußmarsch in die nächste Pizzeria, denn dort gab es einen Fernseher. Für eine begrenzte Zeit schauten wir zu und führten Gespräche, um die Bilder zu verarbeiten.
Der Weg zurück zur Naturschutzstation wurde zur Nachtwanderung. Während tags die Ruhe das Heilige Meer prägte, war es nachts die Dunkelheit. Mit den wenigen Handys leuchteten wir uns den Weg zurück. Was für ein Bild für das, was an dem Abend der Welt bekannt war. Und für das, was sich noch alles ereignen würde.
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Berlin und New York habe ich erst kennengelernt, als die Städte sich neu erfunden haben. Wenige Jahre, nach den für sie prägendsten geschichtlichen Ereignissen. Nach der Wiedervereinigung, nach dem 11. September. In beiden Fällen habe ich erst dann die emotionale Tragweite verstanden. Als ich 2005 und 2006 Menschen kennenlernte, die ich sehr schätze, berichteten sie in ruhigen Momenten mit Tränen in den Augen von ihrem 11. September. Wie sie auf der anderen Seite der Brooklyn Bridge standen und die aus Manhattan rausströmenden Menschen versorgten. Wie eine Besuchergruppe an jenem Morgen eine Tour durch das WTC verpasste, weil sich einige Teilnehmer verspäteten. Wie die Lücke in der Skyline sie jeden Tag an diesen Tag zurück erinnert.
Als Jahre später die neuen Türme am World Trade Center eröffnet wurden, hatte ich das Gefühl, nur im Ansatz zu ahnen, welche Bedeutung die neuen Bauten für viele New Yorker haben. Die beiden Memorial-Brunnen am Ground Zero besuche ich seitdem sehr gerne. Ich empfinde ihn als einen geschmackvollen Ort. Mitten in dieser hektischen Stadt ist dies ein Ort der Ruhe. Ich muss dann auch immer an das Heilige Meer zurückdenken.
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Monate später, zum Abi, sagte mein Biologie-Lehrer: „Daniel, ich werde nie vergessen, dass ich von dir zum ersten Mal von diesem Ereignis gehört habe.“ — Ein Satz, den ich seit dem in meinem Job noch öfter gehört habe. Aber das ahnte ich da noch nicht.
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